Sibylle Bergemann, Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler – vier der bekanntesten ostdeutschen Fotograf:innen, und Maurice Weiss – alle Mitglieder der Agentur OSTKREUZ – zeigen in ungeschönten und zugleich sensiblen Bildern den Alltag und die Menschen in der DDR jenseits der sozial-realistischen Wunschwirklichkeiten. Durch ihre Offenheit und persönliche Sichtweise ermöglichen die Bilder einen authentischen Blick auf den Osten Deutschlands – und sind eine Auseinandersetzung mit einer Realität, die bis in die Gegenwart nachwirkt.
So stehen neben Sibylle Bergemanns vielfach ausgezeichneten, emblematischen Bildern zur Entstehung und Montage des Marx-Engels-Denkmals ihre unerreicht menschlichen Fotografien von „Clärchens Ballhaus“, ebenso wie Werner Mahlers Studie über das thüringische Berka und seine Serie über eine Abiturientenklasse, die er bis heute weiterführt. Ein fotografischer Essay Harald Hauswalds erzählt von der Tristesse und versteckten Komik des DDR-Alltags, während Ute Mahler in ihrer Serie „Zusammenleben“ über Jahre hinweg in sensiblen Bildern Menschen in ihrem privaten Umfeld porträtiert. Und nicht zuletzt schlägt Maurice Weiss mit seiner Dokumentation über die Tage nach dem Mauerfall eine Brücke zur Zeit nach der Wende.
Harald Hauswald
Alltag, 1976–1990
Wenn er fotografiert, sagt Harald Hauswald, dann ist es, als gehe er durch einen Film, dessen Bilder er für einen Moment lang anzuhalten versucht. Aber es soll in diesem Moment immer auch der davor noch sichtbar bleiben und der danach. Die Aufnahmen aus dem Alltag sind auf der Straße entstanden, in Berlin, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre, ohne einen Auftrag, ohne Zeitdruck, einfach beim Gehen.
Sibylle Bergemann
P2, 1974
“P2” bezeichnet einen Plattenbautyp, der erstmals Anfang der sechziger Jahre gebaut wurde. In den Wohnungen war die Küche nicht vom Wohnraum abgeteilt, sondern offen. Die Frau sollte nicht vom Rest der Familie getrennt, der Mann zur Hausarbeit angeregt werden. Sibylle Bergemann fotografierte die Wohnungen 1974 für einen Dokumentarfilm, der am Beispiel eines Wohnblocks in Berlin-Lichtenberg davon erzählte, wie man sich einrichtet im Grundriss des Lebens.
Werner Mahler
Berka, 1977
Berka ist ein Dorf in Thüringen. 1977 ging Werner Mahler für seine Diplomarbeit dorthin und dokumentierte ein Jahr lang das Leben der Bewohner:innen. Er porträtierte Menschen verschiedener Generationen und nahm die Plätze und Anlässe auf, an denen sie sich trafen, den Bäcker, den Konsum, den Sportplatz, das Feld, die Jugendweihe, die Hausschlachtung. Es entstanden 150 Ansichten eines Dorfes, das alles hat, was zu einer Gemeinschaft gehört.
Ute Mahler
1. Mai, Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse, 1980
Berlin, Karl-Marx-Allee, am Tag der Arbeit. Das Volk zieht an der Regierung vorbei. Eine staatlich organisierte Demonstration, die Freude an der Überzeugung ausdrücken soll und doch immer nach der gleichen Choreographie abläuft. Was bleibt, ist der Ausdruck der Leute, wenn sie denen, die das Land regieren, ins Auge sehen. Diesen Blick hat Ute Mahler festgehalten, als sie sich im Jahr 1980 direkt unter die Tribüne stellte.
Werner Mahler
Bergbau, 1975
Braunkohle ist der große Energieträger des Landes. Sie wird mit riesigen Maschinen über Tage gefördert und nicht von Hand, wie die Steinkohle, mit dem Presslufthammer, tausend Meter unter der Erde. Die Grube „Martin Hoop“ bei Zwickau gehörte zu den letzten, in denen in der DDR noch Steinkohle abgebaut wurde. 1975 porträtierte Werner Mahler eine Arbeit, die wirkt wie aus einer anderen Zeit. Drei Jahre später wurde der Schacht geschlossen.
Sibylle Bergemann
Clärchens Ballhaus, 1976
Clärchens Ballhaus ist ein privat geführtes Tanzlokal in Berlin-Mitte. Es spielt eine Kapelle, es gibt Bockwurst, Boulette mit Brot, und mittwochs ist verkehrter Ball. Dann versuchen nicht mehr ganz junge Frauen noch nicht ganz alte Männer kennenzulernen. Arbeiter, Soldaten, Dienstreisende, Fremdgeher. Einige Gäste kommen aus Westberlin und müssen vor Mitternacht am Grenzübergang sein. Aber schon nach Mitternacht reisen sie wieder ein.
Ute Mahler
Zusammenleben, 1972–1988
Mit dieser Reihe hat Ute Mahler im Jahr 1972 begonnen. Sie wollte die Art porträtieren, wie Menschen miteinander leben. Sie wollte zeigen, was zwischen ihnen und eigentlich nicht sichtbar ist. Über einige Jahre fotografierte sie quer durch das Land Männer, Frauen, Eltern, Kinder, Familien, Freunde, Fremde. Sie sammelte Möglichkeiten der immer gleichen Anordnung und als sie 1986 das Gefühl hatte, alle gesehen zu haben, schloss sie die Reihe ab.
Werner Mahler
Die Abiturienten, seit 1977
Dies sind die Schüler einer Oberschule aus Oranienburg bei Berlin. Es ist 1978, sie sind achtzehn, neunzehn Jahre alt, sie haben ihr Abitur bestanden und gehen nun ins Leben. Werner Mahler hat sie von da an im Abstand von jeweils fünf Jahren fotografiert. Eine Zeitreihe, zu sehen, wie sie wurden, wer sie sind. Er hat mit allen angefangen, einige sind inzwischen verschollen, einer ist gestorben, neun sind geblieben. Zwischen dem ersten und dem letzten Bild liegen dreißig Jahre – und eine Wende.
Ute Mahler
Mode, 1977–1982
Die Aufnahmen entstanden Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger für die Frauenzeitschrift „Sibylle“, ein Magazin für Mode und Kultur, das von 1956 an sechsmal im Jahr erschien und immer sofort vergriffen war. Bei der Mode handelte es sich meist um Entwürfe der Modedesigner des Magazins oder des Modeinstituts der DDR, die niemals in die Läden kamen. Die Models waren Frauen, die beruflich eher selten vor der Kamera standen. Fotografiert wurde kaum im Ausland, sondern häufig in der Nähe der Redaktion in Berlin, nahe der Friedrichstraße. „Sibylle“ ging es nicht darum, Frauen eine Anleitung zu geben, wie sie sein sollen, sondern darum, ein Bild von sich selbst zu zeigen.
Werner Mahler
Der Verein, 1980
Zwei Fußballvereine gab es in Ostberlin, deren Anhänger eine tiefe Feindschaft miteinander verband. Der eine war der BFC Dynamo, Sportclub des Ministeriums für Staatssicherheit, das ihn mit allen Mitteln unterstützte, zehn Mal in Folge wurde er Meister. Der andere Verein war der 1. FC Union Berlin, der sich als unterdrückter Außenseiter begriff. Begegneten die beiden Mannschaften einander, ging es immer mehr als nur um ein Spiel. 1980 hat Werner Mahler die Fans von Union zu einem Spiel gegen den großen Rivalen begleitet.
Harald Hauswald
Am Rande der Republik, 1982–1989
Dies sind private Bilder, aufgenommen in Berlin, Anfang bis Mitte der 1980er. Sie zeigen Freunde und Bekannte von Harald Hauswald. Künstler, Punker, Oppositionelle. Er hat sie bei Lesungen fotografiert, bei Umweltkreisen, Mahnwachen, illegalen Demonstrationen und bei Abschiedspartys nach einem genehmigten Ausreiseantrag. Wenn einigen dieser Bilder die klare Härte fehlt, die Harald Hauswalds Arbeiten sonst auszeichnen, zeigt dies einen Konflikt. Er war diesen Menschen näher, als er ihnen mit der Kamera kommen wollte.
Sibylle Bergemann
Das Denkmal, 1975–1986
Ein Denkmal soll entstehen. Es soll die beiden Männer zeigen, die den Sozialismus gedacht haben, hineingestellt in das Land, in dem er wirklich wurde. Elf Jahre lang hat der Bildhauer Ludwig Engelhardt in seinem Atelier in Gummlin auf Usedom an den Figuren von Karl Marx und Friedrich Engels gearbeitet. Sibylle Bergemann hat ihr Entstehen dokumentiert. Von 1975 bis 1986, von den ersten Skizzen bis zum Aufbau in Berlin, beschreibt sie Schritt für Schritt den Weg, auf dem aus den Abbildern Vorbilder werden sollten.
Maurice Weiss
Umbrüche, 1989–1990
Die Mauer war keine 24 Stunden gefallen, da traf Maurice Weiss in Berlin ein. Ein Fotostudent aus Dortmund, der sich das neue fremde Land mit der Kamera vertraut machte. Er arbeitete ohne Auftrag und ging zu den Plätzen, an denen die Verhältnisse umstürzten. Er sah den kurzen Moment, in dem die Bürger:innen dabei waren, ihren eigenen Staat zu machen, bevor ihn das Volk schließlich an einen anderen übergab. Kein Jahr, und das Land war verschwunden.
Beteiligte Fotograf:innen
Sibylle Bergemann
Harald Hauswald
Ute Mahler
Werner Mahler
Maurice Weiss
Echo in den Medien
“Ostzeit ist Ostkreuz-Zeit. Ostkreuz heißt die Fotoagentur aus dem Berliner Osten, die sich zur Wendezeit gründete. Heute gehört sie zu denen, die Geschichten der untergegangenen DDR in herben, gesellschaftskritischen Bildstrecken bewahren. Menschen sind die Hauptsache der beobachtenden, nie behauptenden oder denunzierenden Arbeiten von Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Werner Mahler, Harald Hauswald, Maurice Weiss. Erzählt wird vom Alltag jenseits sozialistischer Schönfärberei.”
Bilder aus einem untergegangenen Land, In: Berliner Zeitung, 13/08/2009
“Die schwarzweißen Fotos zeigen, dass das Leben in der DDR schön und traurig zugleich war, vielfältig im Gleichmaß und häufig einsam im Kollektiv. (…) Zeugnisse einer – wenn auch beengten – Utopie.”
Buntes Gleichmaß, in: Der Spiegel, 33/2009
“DDR-Alltag zwischen Platten- und Bergbau, Fussball und Maiparade, demaskierend, aber auch mitfühlend. Ein starkes Stück angehaltene Zeit, Ostzeit.”
Welt am Sonntag, 2009
Hatje Cantz Verlag, 2009 Fotografien von Sibylle Bergemann, Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Maurice Weiss Texte von Marcus Jauer, Wolfgang Kil, Alexander Osang, Ingo Schulze Deutsch / Englisch 288 Seiten, 29 x 26,5 cm, gebunden, 180 Abb. ISBN 978-3-7757-2486-9
Ausstellungs-Ansichten
Rondell
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Werner Mahler, Die Abiturienten
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Sibylle Bergemann, P2
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Werner Mahler, Berka
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Harald Hauswald, Alltag und Rondell
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Ute Mahler, Mode
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Werner Mahler, Die Abiturienten
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Harald Hauswald, Alltag
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Daten und Fakten
Umfang
13 Positionen 160 Arbeiten variierende Formate je gerahmt Vintage- und Modern-Prints
Konzept
Von OSTKREUZ (Ute Mahler, Werner Mahler, Annette Hauschild und Jörg Brüggemann) in 2009 konzipiert
Bisherige Ausstellungsorte
Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 13.08.-13.09.2009 Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst/Dieselkraftwerk, Cottbus, 2010 MCK International Cultural Centre, Krakau, 2012 Schaufenster Stadtmuseum, Wiesbaden, 2015